Ein Interview in der Septemberausgabe der SIEGESSÄULE

© siegessäule 9|2012, Seite 92-94

„Risiken richtig einschätzen!“

HIV-Medikamente senken drastisch die Infektiosität positiver Menschen. Verläuft die Therapie optimal, kann die Weitergabe der Viren im Grunde ausgeschlossen werden. Selbst ohne Gummi wäre Sex dann safer. Carsten Schatz von der Deutschen Aids-Hilfe über die Folgen für das individuelle Risikomanagement sowie soziale, rechtliche und präventive Konsequenzen HIV-Positive sind unter der antiretroviralen Therapie (ART) nicht mehr infektiös. Diese sogenannte Viruslastmethode soll sogar sicherer sein als Kondome!

Studien zeigen das so. Auch das amerikanische CDC sagt, dass die Viruslastmethode bis zu 96 Prozent Sicherheit bietet. Etwas mehr Schutz als Kondome.

„Risiken richtig einschätzen!“


HIV-Medikamente senken drastisch die Infektiosität positiver Menschen. Verläuft die Therapie optimal, kann die Weitergabe der Viren im Grunde ausgeschlossen  werden. Selbst ohne Gummi wäre Sex dann safer. Carsten Schatz von der Deutschen Aids-Hilfe über die Folgen für das individuelle Risikomanagement sowie soziale, rechtliche und präventive Konsequenzen HIV-Positive sind unter der antiretroviralen Therapie (ART) nicht mehr infektiös. Diese sogenannte  Viruslastmethode soll sogar sicherer sein als Kondome!

Studien zeigen das so. Auch das amerikanische CDC sagt, dass die Viruslastmethode bis zu 96 Prozent Sicherheit bietet. Etwas mehr Schutz als Kondome.

Safer Sex geht also auch ohne Gummis?

Richtig. Goldstandard bleibt das Kondom. Die Viruslastmethode eröffnet aber zusätzliche Optionen, zum Beispiel für Paare, bei denen einer HIV-positiv ist und der andere nicht. Bei kürzeren Geschichten kann man sich darauf aber natürlich nicht verlassen, weil man nicht genug über den Partner wissen kann. Bevor wir die Kondome wegschmeißen, müssen weitere Veränderungen passieren.

Welche denn?

HIV ist nach wie vor nicht besprechbar. Schon gar nicht in der Schwulenszene, in einer Situation, in der Sex angebahnt wird. Eine einfache Kondombenutzung hilft, nicht über HIV sprechen zu müssen. Dabei wäre es an der Zeit, wieder offener darüber zu reden. Wenn jemand sagt, er hat HIV, ist er immer noch gebrandmarkt – und sexuell weniger wert als andere.

Woran liegt das?

Erstens ist das Wissen über HIV auch unter Schwulen geringer, als man meinen würde. Das fängt bei den Basics an: HIV ist ein Virus, was sich schwer überträgt. Und HIV ist noch immer sehr angstbesetzt. Außerdem glaube ich, dass die wenigsten Leute eine realistische Einschätzung des eigenen Risikoverhaltens haben. Und machen wir uns mal nichts vor: trotz der entlastenden Botschaft, dass man unter ART nicht mehr infektiös ist, ist die Bereitschaft von vielen Negativen, mit einem Positiven Sex zu haben, doch sehr gering.

Aber die Männer gibt es, die bare ficken wollen und dazu therapierte Positive daten, um sich eben nicht zu infizieren. Ist doch nicht verkehrt, oder?

Ganz im Gegenteil. Diese Leute managen mit dem Wissen, was sie haben, ihr Risiko.

Warum greift die DAH-Kampagne IWWIT das nicht auf? Warum werden die Jungs nicht abgeholt, die wissen doch genau, was sie tun?

Darüber werden wir reden müssen. Unsere Kampagne ist permanent in der Diskussion und wir wollen auch diese Auseinandersetzung schärfen und provokant bleiben.

Seit 1996 gibt es die moderne Therapie, 2008 veröffentlichte die Schweizer Gesundheitsbehörde EKAF ein Statement, wonach therapierte Positive unter ein paar Bedingungen nicht infektiös sind. Warum hat es so lange gedauert, bis sich das Wissen durchsetzte?

Ich kann das nicht beurteilen. Als 2008 das EKAF-Statement veröffentlicht wurde, fand ich auch, dass das überfällig war, weil es meine Beobachtung bestätigte. Für mich war das eine wesentliche Motivation, damals in den Vorstand der Deutschen Aids-Hilfe zu gehen, da ich es unsäglich fand, wie die DAH zunächst auf EKAF reagiert hatte und dass dieses Thema so lange verschleppt worden war. Die Position der DAH hat sich dann schnell geändert. Wir sind 2009 mit unserem Papier „Therapie und Prävention“ weiter gegangen als die Schweizer.

Inwiefern?

Wir haben die Bedingungen, die EKAF formuliert hatte, nicht alle mitgemacht. In der Öffentlichkeit hieß es ja damals immer, das gelte in festen, heterosexuellen Partnerschaften. Daran hängt es nun wirklich nicht. Alle Studien, die seither publiziert worden sind, haben unser Papier bestätigt. Das war ein wichtiger Schritt für die Leute, deren Interessen wir vertreten. Und sinnvoller als immer zu sagen, wir warten erst auf die fünfte Bestätigung. Der Nationale Aids-Beirat hat sich jetzt unserer Position angeschlossen.

Besteht bei der Viruslastmethode die Gefahr, dass man zwischen guten und bösen Positiven unterscheidet?

Die Gefahr besteht. Deswegen ist mir eins auch wichtig: Über den Start einer Therapie entscheidet
ganz allein der Positive selbst. Man macht keine HIV-Therapie, weil man andere Leute schützen will, sondern sie hilft, gesund zu bleiben. Dass die Therapie Auswirkungen auf die Infektiosität hat, ist ein toller Nebeneffe
kt.

Und für viele Positive ist das sicher sehr beruhigend zu wissen, dass sie aus der Nummer raus sind.

Das war die große Chance, weshalb ich mich dafür eingesetzt habe, dass man dieses Wissen verbreitet. Für viele
ist es eine große Entlastung. Sie müssen nicht mehr mit dem Druck in eine sexuelle Situation gehen, sondern können unbeschwerter sein. Brauchen sich keine Sorgen zu machen, selbst, wenn sie mal zu viel getrunken oder andere Drogen genommen haben.

Weniger Viren im Blut heißt, weniger infektiös. Je mehr Positive also unter die Nachweisgrenze rutschen, desto weniger Neuinfektionen dürfte es geben! Das könnte einen auf die blöde Idee bringen, mal alle durchzutesten und die Infizierten in eine Therapie zu stecken. Warum geht das nicht?

In keiner Gesellschaft, in der Freiheit zu den Grundwerten zählt, kann man Menschen dazu zwingen, einen Test zu machen oder Tabletten zu schlucken.

Sachsen-Anhalt sieht das offenbar anders, dort plant man Zwangstests!

Das hat die DAH entsprechend kommentiert. Ich halte es für ein Nachgefecht einer überholten Auseinandersetzung. Was dort an realem Kern drinsteckt, ist heute anders handhabbar, ohne Grundrechte zu verletzen.

Du warst grad auf der Welt-Aids-Konferenz in Washington. Dort ging es auch um das Thema Test and treat. Deine Einschätzung!

Der Chef von UNAIDS hat in Washington eine Drei-Nullen-Strategien vorgestellt:
Wir wollen keine Neuinfektionen, keine weiteren Aids-Toten und keine Diskriminierung mehr. Das schließt Handlungen aus, die einen Zwang implizieren und Menschen mit HIV an den Pranger stellen. Test and treat wird nicht funktionieren! In Washington ist auch eine Studie aus England vorgestellt worden, die zeigt, dass ein Fokus auf die rein biomedizinischen Geschichte bei Verzicht auf die Community nicht zu den gewünschten Erfolgen führt. Der Deutschen Aids-Hilfe geht es um kombinierte Prävention, wie sie auch in Washington anklang.

Was heißt das konkret?

Wir müssen die Selbsthilfe und Selbstorganisation stärken, mehr Wissen unter die Leute bringen, sie in die Lage versetzen, Entscheidungen auf Basis eines Risikomanagements zu treffen. Risiken richtig einschätzen und dann entsprechend der jeweiligen Position handeln. Andererseits brauchen wir die gute Kooperation mit Ärztinnen und Ärzten, als Organisation, aber auch der einzelne Positive.

Für die DAH ist es in Ordnung, wenn sich jemand entscheidet, aufs Gummi zu verzichten. Positiv wie negativ?

Ja, natürlich.

Und, noch mal zurück, wer vor dem Sex keine Absprache trifft, muss davon ausgehen, dass sein Gegenüber mit allem Möglichen infiziert sein kann!

Ja. Allerdings nach dem, was ich so erlebe: Ist das so?

Frage ich dich!

Stimmt schon. Und es gibt ja auch die vermeintlich Negativen.
Nach wie vor haben die Leute in der Szene einen Haufen an Strategien, die nicht immer funktionieren. Verbreitet ist das Serosorting, wenn man sich einen Partner mit demselben HIV-Status sucht. Viele fragen aber nicht danach, sondern versuchen einzuschätzen, ob der andere auch negativ oder auch positiv ist. Das höre ich oft von jungen Männern, die denken, mit einem Gleichaltrigen wird es funktionieren. Leider nicht.

Dazu passt auch diese Falschannahme: HIV wurde mir angehangen.

Richtig. Ich finde, HIV bekommt man nicht. Man holt sich HIV.

Insofern ist der Positive, Viruslastmethode hin oder her, überhaupt nicht verantwortlich dafür, wenn sich jemand bei ihm infiziert!

Das sehe ich auch so. Heißt aber nicht, dass das allen so geht, und kommt auch darauf an, wie eng die jeweilige Beziehung ist, ob man sich nicht trotzdem schuldig fühlt.

Was hat HIV dann noch vor den Gerichten verloren?

HIV hat im Strafrecht nichts zu suchen! Die Kriminalisierung von HIV hat sich aber in den Köpfen vieler Menschen festgesetzt. Das ist gefährlich und kontraproduktiv. Und verhindert auch Klarheit in dem Punkt, dass sie HIV nicht irgendwie angehangen bekommen, sondern es sich selbst holen. Ich bin mit diesem Credo aufgewachsen.
Habe mir nie Gedanken darüber gemacht, von wem ich das haben könnte.

Wir haben ja keine explizite HIV-Gesetzgebung

... ... Es ist eine Art Zwischenlösung. Wir haben ein BGH-Urteil von 1988, eine Konstruktion, die speziell für HIV geschaffen worden ist. Zu keiner anderen Krankheit ist je jemand verurteilt worden! Die Kriminalisierung der HIV-Übertragung im sexuellen Kontext ist die letzte Form staatlicher Diskriminierung. Die müssen wir abschaffen.
Dafür wollen wir ein Bewusstsein schaffen.

Warum macht HIV immer noch den Unterschied? Keine andere Krankheit ist doch mit so vielen Vorurteilen verbunden!

Wenn du dich als Positiver outest, wirst du nicht wegen HIV diskriminiert – also nicht nur, die Angst schlecht informierter Leute ist sicher ein Argument –, sondern weil bei HIV andere Dinge mitschwingen. Du bist schwul. Du nimmst Drogen. Du hast einen promisken Lebensstil. Auf diese gesellschaftlichen Tabus weist HIV hin. Diskriminierung von HIV-Positiven ist vor allem Diskriminierung jener Dinge, die zu HIV geführt haben.

Im Grunde geht es nicht mehr um HIV, sondern darum, ob jemand infektiös ist oder nicht. Oder hältst du die „HIV-Identität“ noch für nötig?

Wenn das ausreichen würde, wäre es gut.

Aber das ist doch auch für junge Infizierte nervig, dieser HIV-Ballast?

In der Theorie hast du recht, aber so weit sind wir nicht. Ich bin der Letzte, der behauptet, HIV begründet eine Identität. Aber um dieses Ziel einer Null-Diskriminierung zu erreichen, dabei bleibe ich, werden die Menschen mit HIV weiterhin positive Modelle in die Gesellschaft hineinsetzen müssen. Das wird nur funktionieren, wenn Leute ihren Status auch offenlegen.

Ausgrenzung von HIV-Infizierten erleben wir auch in der Community. Warum eigentlich?

Weil uns die Räume fehlen, in denen wir solche Diskussionen führen können. In den letzten Jahren hat eine starke Segregation stattgefunden. Für Positive hat sich z. B. eine eigene Szene gebildet, wo diese faktisch untereinander Sex haben – mit anderen Problemen, die daraus entstehen können. Letztlich müssten wir auch mal über die eigene Homonegativität reden, die eigene Abwertung von homosexuellem Leben, die auch in den diversen Szenen bzw. Communitys stattfindet.

Offenbar greifen in den HIV-Communitys ähnliche Mechanismen, wenn jemand z. B. mit einer Syphilis oder Hepatitis C antrabt?

Gut möglich. Für mich ist das eine Folge der Trennung der Szenen. Wir haben steigende Syphilis- und steigende Hepatitis-C-Zahlen vor allem unter HIV-Infizierten. Viele Positive haben miteinander kondomlosen Sex. Positive sind aber nicht davon befreit, ihre Sexualität zu reflektieren. Vielleicht auch darüber zu reden. Mit sich und anderen achtsam umzugehen.

Bei HIV, das sagten wir vorhin, muss man vorm Sex keine Ansage machen – bei Syphilis oder Hepatitis C hältst du es für ratsam?

Da bricht die eine oder andere Konstruktion auch mal zusammen. Hepatitis C kann für den Einzelnen dramatische Konsequenzen haben. Ich finde, manchmal wird etwas zu leichtfertig mit ihr umgegangen. Was bei HIV gilt, ist nicht 1:1 auf Hepatitis C übertragbar. Hier stehen wir, auch was die Prävention angeht, sicher noch am Anfang.

© siegessäule 9|2012, Seite 92-94

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