Alles redet von Baden-Württemberg, wir reden von Berlin!

„Sexuelle Vielfalt“ – das ist eigentlich eine Berliner Erfindung. In Baden-Württemberg hat zwar jetzt eine Petition gegen den „Bildungsplan für sexuelle Vielfalt im Unterricht“ große Aufregung erzeugt. Gegen „Sexualisierung des Unterrichts“, „sexuelle Umerziehung“ und ähnliche „Bedrohungen“ wird von Kirchen, Initiativen und Bürgerinnen und Bürgern Sturm gelaufen, werden Unterschriften gesammelt.

Ausschussanhörung zu unserer „Initiative für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“

„Sexuelle Vielfalt“ – das ist eigentlich eine Berliner Erfindung. In Baden-Württemberg hat zwar jetzt eine Petition gegen den „Bildungsplan für sexuelle Vielfalt im Unterricht“ große Aufregung erzeugt. Gegen „Sexualisierung des Unterrichts“, „sexuelle Umerziehung“ und ähnliche „Bedrohungen“ wird von Kirchen, Initiativen und Bürgerinnen und Bürgern Sturm gelaufen, werden Unterschriften gesammelt. In Berlin hat das Abgeordnetenhaus allerdings bereits 2009 auf Initiative der Linksfraktion die „Initiative Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“ beschlossen und für 2010/11 mit 2,1 Mio. € Haushaltsmitteln untersetzt. Natürlich geht es darum, die Menschenrechte von Queers in den öffentlichen Blick zu nehmen und für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt die gesellschaftlichen Bedingungen zu verändern. Das ist das Bohren dicker Bretter. Das mussten wir heute auch wieder auf der Anhörung zum Thema im Ausschuss für Integration und Arbeit erleben.

Die Initiative von 2009 umfasste nicht nur die couragierte Behandlung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, nämlich Antidiskriminierungs-, Hilfe- und Beratungsangebote, sondern auch die Sichtbarmachung queerer Geschichte im Stadtbild, die Öffnung der Verwaltung und vieles andere mehr. Über 2 Jahre hinweg starteten die Projekte, seit der Neuwahl 2011 allerdings ist die Initiative trotz vielfältiger Bekenntnisse gegenüber den Communities eher ein Stiefkind der rot-schwarzen Koalition. Haushaltsmittel sind prekärer geworden, eine langfristige Absicherung findet nicht statt, Berichterstattung gegenüber dem Parlament ist seit 2011 nicht mehr vorgenommen worden und nach der Schlussevaluation der ersten beiden Jahre hat es keine wissenschaftlich fundierte Reflexion des Prozesses mehr gegeben.

Gemeinsam mit den Piraten haben wir inzwischen gemeinsam mit Initiativen, Projekten und Vereinen aus den Queer-Communities eine grundlegende Weiterentwicklung erarbeitet und im November 2012 in das Abgeordnetenhaus eingereicht. Dort lag er lange Zeit, angekündigt sind seit langer Zeit auch Anträge der SPD-CDU-Koalition. Doch nichts passierte. Bis vergangenen Sommer SPD und CDU den Antrag im Bildungsausschuss kurzerhand ablehnten. Heute ist dann auf unseren Antrag hin im Ausschuss für Integration und Arbeit eine Anhörung durchgeführt worden. Sie bestätigt: Berlin war und ist auf einem guten Weg. Die „Initiative sexuelle Vielfalt“ ist ein Berliner Qualitätsprodukt – ausgezeichnetes best-practice-Beispiel in der EU und inzwischen in vielen anderen Bundesländern „kopiert“: in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und eben auch Baden-Württemberg. Aber Senat und Koalition ruhen sich auf dem Erreichten aus. Viele warme Worte seitens der Integrationssenatorin Dilek Kolat und dem SPD-Abgeordneten Lehmann, wenig Empathie bei der CDU, kaum Konkretes: Berichtspflicht gegenüber Parlament und Öffentlichkeit „sei seit 2011 keine Pflicht des Senats mehr“, kontinuierliche institutionelle Förderung wird nicht forciert, Evaluation findet keine statt.

Dr. Ulrich Klocke von der Humboldt-Universität, der von unserer Fraktion als Anzuhörender benannt worden ist, verdeutlichte erneut die Diskriminierungserfahrungen von queeren Jugendlichen an Schulen und Bildungseinrichtungen. Es gibt zahlreiche Einflussmöglichkeiten für das lehrende Personal, Bullying und Mobbing couragiert aufzuarbeiten – teilweise beteiligen sich allerdings Pädagog*innen an dieser Diskriminierung. Auch die Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit des Themas, Empowerment queerer Schüler*innen und aufklärende Behandlung des Themas im Unterricht beeinflusst die Einstellungen junger Menschen positiv. Dr. Klocke beschreibt die Notwendigkeit, die Maßnahmen von 2010 zu verstetigen und in das reguläre Bildungsprogramm integriert wird. Auch die Forschungs- und Erkenntnisgrundlagen müssen deutlich ausgebaut werden – nicht durch viele kleine Einzelstudien, sondern durch die Integration des Themas in die Grundlagensozialforschung.

Stefanie Nordt von der Bildungsinitiative QUEERFORMAT unterstützt den Maßnahmekatalog von Linksfraktion und Piraten. Seit Mai 2010 ist QUEERFORMAT im Jugendbereich, seit September 2010 auch im Schulbereich mit Menschenrechts- und Diversityarbeit aktiv. Inzwischen sind eine Reihe von „Schlüsselpersonen“ in Schule und Jugendhilfe geschult, Handreichungen und Unterrichtsmaterialien erarbeitet worden. Viele Aufträge aus dem Parlamentsbeschluss von 2009 sind aber noch nicht umgesetzt. Es bleibt viel zu tun, weshalb wir die ISV 2.0 erarbeitet haben: Nur in 3 von 12 Bezirken wird die Initiative bisher umgesetzt, in 9 Bezirken allerdings nicht. So sind bisher 1.900 von 31.000 Fachkräften in der Jugendhilfe, also 6%, von der Fortbildung erreicht worden. Evaluation und Qualifizierung mit den Communities muss wieder aufgenommen, die Angebote müssen dauerhaft in den Ressorts und dem Haushalt verankert werden. 

So-Rim Jung vom LSVD begrüßt ebenfalls die qualifizierten Anträge. Sie weist darauf hin, dass bisher eine Reihe von Angeboten nur aus Lottomitteln, also zeitlich befristet, abgesichert ist. Auch Krisenangebote für von Gewalt und Zwangsverheiratung betroffene Queers werden dringend benötigt, da blieb es bisher bei Ankündigungen. Besonderes Augenmerk liegt auch auf dem Sport, einer „Hochburg der Heteronormativität“. Auch hier muss mehr unternommen werden – die Ressourcen allerdings reichen hinten und vorn nicht. Die Erwartung des LSVD liegt in der Entwicklung einer langfristigen Strategie: die Koalition hat im Koalitionsvertrag und den Richtlinien der Regierungspolitik ehrgeizige Ankündigung gemacht. Dem müssten nun endlich Taten folgen.

Chistoph Alms vom Jugendnetzwerk Lambda beschreibt die Herausforderung für die Selbstorganisation queerer Jugendlicher. Erst jetzt kann eigentlich – nach Absolvierung der Startphase – wirklich mit der Arbeit begonnen werden, weil die Netzwerke und Kontakte inzwischen aufgebaut sind. Schwierig ist die Kontinuität, wenn insbesondere bei Projekten mit großem Anteil ehrenamtlicher Arbeit die Absicherung alle Haushaltsjahre wieder gefährdet ist, beispielsweise „Queer at school“. Gerade Unterstützungs- und Hilfsangebote für queere Jugendliche sind nach wie vor prekär.

Dann wurde die Zeit eng. Leider blieben viele Fragen unbeantwortet – weil die Anzuhörenden nicht mehr die Zeit fanden, dazu auszuführen. Dass es viele Defizite zu bearbeiten gilt, wurde deutlich. Da aber die queerpolitischen Sprecher von SPD und CDU nicht vor Ort waren, gab es auch keine Positionierung, wie es jetzt mit den Anträgen weitergehen soll. Wir zumindest drängen darauf, bald die Behandlung und Entscheidung der Anträge wieder im Ausschuss auf die Tagesordnung zu setzen. Dann – und bei der Schlussabstimmung im Parlamentsplenum – können SPD, CDU und Senat zeigen, was sie wirklich unter „Fortführung und Weiterentwicklung der Initiative“ (Koalitionsvereinbarung) verstehen. Bis jetzt droht, dass Berlin seine Vorbildrolle vernachlässigt und dann eben auch verliert. Leidtragende sind dann die vielen Queers, die in unserer Stadt leben und die Berlin so prägende Atmosphäre von Toleranz und Offenheit.

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