Lasten der Krise gerecht verteilen
Unbestritten, wir stehen durch die Coronapandemie vor enormen Herausforderungen, aber ich bin sicher, wenn wir solidarisch sind und die Lasten der Krise und ihrer Überwindung gerecht verteilen, werden wir auch diese Krise meistern, sagt unser Vorsitzender Carsten Schatz.
65. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 1. November 2020
Aussprache zur Erklärung des Regierenden Bürgermeisters „Corona bekämpfen! Gesundheit sichern und Leben retten. Solidarisch und entschlossen.“
Carsten Schatz (LINKE):
Vielen Dank! – Herr Präsident, meine Damen und Herren! Lag die Zahl der täglich gemeldeten Neuinfizierten mit Covid-19 in den ersten Septemberwochen im Schnitt noch bei 74, so liegt sie in den vergangenen Tagen bei 1 000 Fällen und zum Teil bei über 1 000 Fällen. Wesentlich besorgniserregender aber ist, dass sich auch die Zahl derjenigen, die stationär und intensivmedizinisch behandelt werden müssen, stark erhöht hat – von acht am 8. September auf 180 heute früh 8 Uhr laut DIVI-Intensivregister. Das ist der Grund, warum auch wir Handlungsbedarf sehen. Denn auch, wenn wir noch deutlich von einer Überlastung des Gesundheitssystems entfernt sind und es keinen Grund zur Panik gibt, können wir nicht warten, bis die kritische Schwelle einer 25-prozentigen Belegung der Intensivbetten durch Covid-19-Patienten und -Patientinnen erreicht ist, denn diese Betten benötigen wir ja nicht nur für diese, sondern auch für andere Menschen mit schweren Erkrankungen.
Ein anderer Grund ist, dass uns die Gesundheitsämter mitgeteilt haben, dass sie angesichts der hohen Zahlen von neuen Fällen und der gestiegenen Zahl an Kontakten, die diese Menschen hatten, mit deren Nachverfolgung nicht mehr hinterherkommen. Es ist jetzt hier nicht der Ort und der Zeitpunkt, um darüber zu richten, weshalb es oft nur unzureichend gelungen ist, die Gesundheitsämter im Sommer ausreichend zu ertüchtigen. Das haben wir bereits in den vergangenen Wochen getan, und wir werden es weiter tun. Aber es ist an dieser Stelle die Zeit und ein Bedürfnis für mich, all denjenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Studierenden, Freiwilligen und Helfenden, die in den vergangenen Monaten unermüdlichen Einsatz gezeigt haben, für diesen Einsatz zu danken. Wir stehen miteinander in der Pflicht, sie mit dieser Situation nicht alleine zu lassen.
Der Regierende Bürgermeister hat in seiner Erklärung hervorgehoben, wie wichtig eine weitgehend bundeseinheitliche Regelung ist. Ebenso richtig ist es, dass wir bei der Umsetzung die Besonderheiten einer Großstadt beachten, in der es viele Single-Haushalte gibt, in der es beengte Wohnverhältnisse gibt und in der es vor allem viele Menschen gibt, die nicht über das große Geld verfügen. Als Linke haben wir schon am Beginn der Pandemie davor gewarnt: Die Krise verwischt die sozialen Unterschiede nicht, im Gegenteil, sie verschärft sie und lässt sie deutlich zu Tage treten. Ein Lockdown lässt sich eben leichter in einer Villa mit Garten oder in einem Loft mit Dachterrasse aushalten als zu viert in einer Dreizimmerwohnung und erst recht besser, als wenn man sich in einer Gemeinschaftsunterkunft das Zimmer mit jemand anderem teilen oder gar auf der Straße leben muss. Deshalb bin ich auch froh, dass es im Senat gelungen ist, noch Anpassungen an unsere Situation in Berlin zu vereinbaren. Vereinstraining für Kinder draußen bleibt möglich, Spielplätze sollen geöffnet bleiben, ebenso Musikschulen. Wir appellieren auch zu schauen, welche Angebote in der Jugend- und Sozialarbeit weitergeführt werden können. Wir müssen Möglichkeiten schaffen, dass Kinder auch unter diesen Bedingungen mal herauskommen und die Eltern entlastet werden.
Gerade da, wo die Verhältnisse beengt, die Zukunftssorgen und der damit verbundene Stress groß sind, ist das enorm wichtig. Auch dass Leihbetrieb in Bibliotheken weitergeht, Volkshochschulen geöffnet bleiben und diverse Dinge mehr, anders als im Frühjahr, war uns in dieser Situation wichtig, dass wir korrigieren konnten, dass Tankstellen und Bäcker vor 6 Uhr morgens keinen Kaffee an die Menschen ausschenken dürfen, die unsere Stadt nachts am Laufen halten. Man kann es drehen und wenden, wie man will. Es ist nicht möglich, in einer fast Viermillionenstadt, dass sich alle Menschen für vier Wochen in ihrer Wohnung verkriechen und nur zum Arbeiten und Einkaufen herauskommen. Abgesehen davon, dass ich das nicht will, ist diese Vorstellung, mit Verlaub, weltfremd und würde deshalb auch nicht funktionieren. Unsere Aufgabe ist es eben daher, das soziale Leben eben nicht weitgehend zum Erliegen zu bringen. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, die Bedingungen dafür zu schaffen, auch in einer Pandemie möglichst viel soziales Leben so zu ermöglichen, dass sich die Menschen nicht untereinander anstecken, dass sie die einfachen Regeln einhalten können wie Abstandhalten, Hygieneregeln befolgen, Alltagsmasken tragen, die Corona-Warn-App benutzen, lüften und die Zahl der Kontakte klein und überschaubar halten.
Ich verrate hier kein Geheimnis, dass wir als Linksfaktion mit den Entscheidungen der Ministerpräsidentenkonferenz nicht nur nicht glücklich sind, sondern dass es in unseren Reihen auch starke Bedenken sowohl grundsätzlicher Natur als auch im Detail gibt. Wir teilen die Enttäuschung und die Frustration all jener, die sich in den vergangenen Monaten um einen hygienesicheren Betrieb ihrer Einrichtung gekümmert haben, allen voran die Kulturreinrichtungen dieser Stadt, aber auch die Gastronomie, die Sportvereine, die Kosmetik- und Tattoostudios, die Fitnessstudios. Viele haben sich Gedanken gemacht, in Schutzkonzepte investiert und fühlen sich nun schlicht verarscht. Ja, es bleibt für uns unverständlich, um die Worte unseres Kultursenators Klaus Lederer aufzugreifen, weshalb man sich in einer Shoppingmall herumtreiben kann, aber kein Museum oder keine Galerie besuchen darf,
außer, es ist eine private Galerie, die dem Verkauf von Kunstwerken dient. Die fällt dann vielleicht unter die Rubrik Einzelhandel und darf geöffnet bleiben. Die Entscheidung der MPK – da kann ich Ihnen als Vorsitzender einer demokratisch-sozialistischen Fraktion ein paar grundsätzliche Anmerkungen nicht ersparen –, werfen ein bezeichnendes Licht auf das in diesen Reihen vorherrschende Menschenbild. Arbeiten und Einkaufen hat Priorität, soziales und kulturelles Leben dagegen ist verzichtbar und kann eingeschränkt werden.
Der Mensch ist jedoch kein Homo oeconomicus, sondern ein soziales Wesen. Kultur ist eben nicht irgendein Gut, dass man konsumiert wie ein belegtes Brötchen. Wenn sich der bayerische Ministerpräsident Söder feiert, dass der geplante Ausgleich der Umsatzausfälle für Theater doch ein gutes Geschäft sei, da in diesem Jahr vermutlich auch ohne Schließung nicht 75 Prozent ihrer Umsätze aus dem Vorjahr erreicht würden, zeigt es genau diese Denkweise. Ja, das Brot der Künstler ist nicht nur der Beifall. Aber der Wegfall der Möglichkeit, Kultur darzubieten und genießen zu können, ist eben nicht einfach durch Geld aufzuwiegen.
Genauso ist eine Kneipe, ist eine Bar nicht einfach nur ein Ort, wo Bier ausgeschenkt wird, sondern ein Ort, an dem sozialer Austausch stattfindet.
Es ist bezeichnend, dass die Rückkehr ins Homeoffice erst auf den letzten Drücker noch Eingang in das Beschlusspapier der MPK fand, und das nur als Appell.
Wir sehen, in der Krise treten nicht nur die sozialen Unterschiede zutage, wenn Millionen Menschen Zukunftsängste haben und um ihre Jobs bangen – wer hier eine Illustration braucht: Seit Beginn der Pandemie wuchs das Vermögen der Albrechts, Aldi, Schwarz, Lidl, Klattens, Quandts, BMW, Hopps und Plattners von SAP laut „Forbes“ um fast 30 Milliarden Euro –, diese sozialen Unterschiede treten verschärft zutage, sondern auch das, was in einer kapitalistischen Gesellschaft Priorität hat: Arbeiten und Konsumieren. Mit dieser Prioritätensetzung können und wollen wir uns als Linke nicht zufrieden geben.
Es kann und darf nicht unsere Perspektive sein, dass wir jetzt für vier Wochen in den Lockdown gehen, damit das Weihnachtsfest und -geschäft retten und wir womöglich im Januar wieder vor dem gleichen Dilemma stehen. Deshalb müssen wir, wie es auch die Virologen Streeck und Schmidt-Chanasit zusammen mit den Hausärzten einfordern, in den kommenden Wochen Mittel und Wege finden, die ein soziales und kulturelles Leben mit dem Virus ermöglichen.
Dafür müssen wir gewährleisten, dass die Gesundheitsämter die Nachverfolgung schaffen können. Ja, dafür gilt es auch, Kontakte überschaubar zu halten, aber eben auch, die Gesundheitsämter personell zu stärken und digital auf den erforderlichen Standard zu bringen, Räumlichkeiten bereitzustellen, Mehrsprachigkeit zu gewährleisten. Hierzu haben wir Vorschläge gemacht. Wir müssen die besonders vulnerablen Gruppen in unserer Gesellschaft besonders schützen, ohne sie zu isolieren. Was wir da im Frühjahr erlebt haben, darf sich nicht wiederholen, auch nicht in den nächsten vier Wochen.
Mit den Schnelltests verfügen wir heute über bessere Möglichkeiten. Ich erwarte daher von der Gesundheitssenatorin, dass sie umgehend einen Plan vorlegt, wie die Pflegeheime, die Seniorenresidenzen, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung und andere Gemeinschaftsunterkünfte schnell damit versorgt werden können. Das Gleiche gilt für die Bereitstellung von FFP2-Masken. Keine Isolation bedeutet übrigens nicht nur, Ausgang und Besuche zu ermöglichen, sondern bedeutet auch, dass wichtige Angebote von Fuß- bis zur Haarpflege möglich bleiben. Auch das mag banal klingen, aber es sind diese kleinen Dinge, die oftmals für die Menschen eine große Bedeutung haben.
Wir müssen Schutzräume für Obdachlose und Ausweichmöglichkeiten für Menschen in beengten Wohnverhältnissen schaffen. Mit den 24/7-Unterkünften, in denen Obdachlose auch tagsüber unter geschützten Bedingungen bleiben können, hat unsere Sozialsenatorin Elke Breitenbach im Frühjahr Modellprojekte geschaffen, die wir nun ausweiten müssen. Es stehen genug Hotels und Pensionen in der Stadt leer, die wir dafür anmieten können.
Wir müssen darüber reden, wie wir es schaffen, die Schulen, in denen Fenster nicht zu öffnen sind, mit mobilen Luftreinigungssystemen auszustatten, damit eine Lüftung gewährleistet ist. Hier hilft die halbe Milliarde der Bundesregierung nicht. Hier müssen wir erneut in die Auseinandersetzung gehen.
Vor allem aber müssen wir weiterhin dafür werben, dass wir Berlinerinnen und Berliner uns alle an die wichtigsten Regeln halten. Wir haben als Linke von Anfang an gesagt, dass es nur gelingen kann, wenn die Menschen selbst vom Sinn der ergriffenen Maßnahmen überzeugt sind und sich freiwillig an die Regeln halten und nicht, weil sie angeordnet wurden. Wir müssen konstatieren, dass wir hier zuletzt nicht mehr so durchgedrungen sind wie noch im Frühjahr. Wie von uns befürchtet, hat auch die Androhung immer höherer Bußgelder hier wenig bewirkt. Ich finde, es gibt Grund genug, eine Kommunikation zu hinterfragen, die nicht nur hier aus diesem Parlament geschah, die in jeder kleinen Party unter freiem Himmel ein Superspreading-Event sah. Das war letztendlich so wie in der Fabel vom Hirtenjungen, der immer wieder aufgeregt: „Ein Wolf! Ein Wolf!“ ruft. Wenn die Bauern zu Hilfe eilen, ist kein Wolf da.
Die ständige Erregung, die wir über den gesamten Sommer verfolgen konnten, und der ständig erhobene Zeigefinger haben letztlich nicht zu mehr Achtsamkeit geführt, sondern im Gegenteil dazu, dass die Warnungen bei immer mehr Menschen an Überzeugungskraft verloren haben. Die Menschen sind keine Mündel, die durch uns Politikerinnen und Politiker erzogen werden müssen.
Da, wo die Regeln als sinnvoll erachtet werden, werden sie auch größtenteils eingehalten.
Dafür ist permanente, sich wiederholende Aufklärung, und zwar möglichst auf Augenhöhe notwendig, aber, auch das sei hier nicht vergessen, dass wir auch die Einhaltung von Regeln kontrollieren, aber bitte mit Augenmaß und Priorität. Es ist schwer nachvollziehbar, wenn einerseits die Polizei bei Fahrradfahrenden Masken kontrolliert, andererseits aber 2 000 Aluhüte ohne Maske durch die Karl-Marx-Allee ziehen können, oder wenn Gastronomen erleben, dass im Lokal nebenan ohne Abstand gefeiert wird, das Ordnungsamt aber lieber Mustafas Späti kontrolliert, wenn in Zügen, anders als im ÖPNV, die Masken schnell mal fallen, aber Horst Seehofer die Bundespolizei lieber in die Schleierfahndung schickt.
Um es hier einmal ganz deutlich zu sagen: Aufrufe zur Denunziation, weil man in der Wohnung der Nachbarn eine größere private Feier vermutet, sind nicht unser Weg.
In einer solchen Gesellschaft wollen wir nicht leben.
Der Lockdown ist für uns alle ein bitterer Rückschlag. Es ist für uns auch keine Lösung, irgendwie durchzuhalten, bis uns irgendwann ein Impfstoff erlöst. Wir müssen Vorkehrungen treffen, damit das soziale Leben unserer Stadt auch im Winter nicht stirbt. Diese Aufgabe können und wollen wir nicht mehr allein den Ministerpräsidenten und Ministerpräsidenten dieses Landes und auch nicht dem Senat überlassen. Der müssen wir uns gemeinsam stellen, auch hier im Berliner Parlament. Die „heute- Show“ textete am Freitagabend über den deutschen Bundestag „arbeitslos und Spaß dabei“. Die Kritik trifft sicher nicht nur den Bundestag, sondern auch uns. Wir müssen selbstkritisch feststellen: Auch wir haben zu lange der Idee angehangen, die Lage sei im Griff, weitere Debatten und parlamentarische Beteiligungen seien unnötig. Doch ganz im Gegenteil. Deshalb werden wir schnell miteinander reden müssen, wie wir parlamentarische Beteiligung ausgestalten, im Bund und auch hier in Berlin.
Sie kann nicht darin bestehen, Entscheidungen der Regierung im Nachhinein abzunicken; sie muss darin bestehen, einen Rahmen auf Landesebene in einem Gesetz festzuhalten, in dem der Senat tätig werden kann und wo das Abgeordnetenhaus sich eigene Befugnisse vorbehält.
Den FDP-Vorschlag begrüßen wir an der Stelle, und ich finde, darüber muss debattiert werden. Wir werden hier aber auch darüber zu reden haben, welche Hilfen weiterhin und verstärkt notwendig sind. Gut, dass die Bundesregierung dem Vorschlag Helge Schneiders gefolgt ist und nun einen Monatsdurchschnitt für die 75 Prozent des Vorjahresumsatzes zugrunde legen will. Helge Schneider hat nämlich im letzten November nichts verdient, und 75 Prozent von nichts ist nichts – bei laufenden Kosten.
Neben weiteren Hilfen halten wir einen Beitrag der Immobilienwirtschaft gerade bei den Gewerbemieten für dringend erforderlich, wie auch einen Zuschlag von 150 Euro bei den Harz-IV-Empfangenden und natürlich die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes.
Dafür braucht es Geld, und neben einer Erhöhung der Neuverschuldung habe ich vorhin schon gesagt, bei welchen Krisengewinnlerinnen dieses Geld über eine Vermögensabgabe wieder eingesammelt werden könnte.
Meine Damen und Herren! Liebe Berlinerinnen und Berliner! Nein, wir haben nicht alles richtig gemacht in den letzten Wochen und Monaten. Ja, die Herausforderungen sind groß. Den Zielen, eine Überforderung unseres Gesundheitssystems zu verhindern, also Ärztinnen darüber entscheiden zu lassen, wer behandelt wird und wer nicht, zum einen und zum anderen, so viele Menschen wie möglich ohne dauerhafte Schäden in die Zeit nach der Pandemie mitzunehmen, fühlen wir uns zutiefst verpflichtet. Wir werden als Linksfraktion alles unterstützen, was diesen Zielen dient und den Charakter unserer Stadt als Hort der Freiheit, der Selbstbestimmung und der Solidarität sichert.
Dazu haben wir in den kommenden vier Wochen Arbeit vor uns. Der Weg dahin kann nur ein solidarischer sein. Deshalb mein Appell: Halten wir Abstand zueinander! Tragen wir Alltagsmasken! Halten wir uns an Hygieneregeln! Nutzen wir die Corona-Warn-App! Lüften wir regelmäßig, wenn wir uns drinnen aufhalten! Und vor allem: Halten wir die Zahl unserer physischen Kontakte zu anderen Menschen klein und überschaubar! Bei Letzterem kann auch ein kleines Notizbuch helfen. Unbestritten stehen wir vor enormen Herausforderungen, aber ich bin sicher: Wenn wir solidarisch sind und die Lasten der Krise und ihrer Überwindung gerecht verteilen, werden wir auch diese Krise meistern. – Ich danke Ihnen!